Die Corona-Krise

Fotografie … ja. Was ist das eigentlich? Es gibt die Produktfotografie, Portraitfotografie, Makrofotografie, Aktfotografie etc. Und es gibt eine dokumentarische Fotografie. Die Reportage. Der Kernaspekt der Reportage ist das (scheinbar) objektive Abbilden der Realität. Aber scheinbar nur deshalb, weil der Fotograf sich entscheidet, wann der Auslöser gedrückt wird, welcher Bildwinkel gewählt wird, wann fotografiert wird etc.

Gegenwärtig ist die Corona-Krise das beherrschende Thema in der Gesellschaft. Also ein gutes Thema für eine Reportage. Spontan bin ich deshalb in die Stuttgarter Innenstadt gefahren, um etwas von der Stimmung einzufangen. Aber was bietet sich für eine Reportage eigentlich an?

  • Die Geschäfte haben geschlossen
  • Die Restaurants haben geschlossen
  • Die Menschen sollen zuhause bleiben

Für mich ging es also primär um Leere. Wie lässt sich diese Leere aber dokumentieren? Was symbolisiert die Leere? Was sind die Zeichen der Corona-Krise, die sich bildhaft erfassen lassen? Ich hatte da ein paar Ideen 🙂

Ein kurzer Exkurs zur Spontanität. Ich war so spontan, dass beide Akkus komplett bzw. fast leer und beide Speicherkarten voll waren. Deshalb hier ein Ausrüstungstipp: In meinem Kamerarucksack habe ich immer ein Akkuladegerät mit USB-Eingang und eine Powerbank dabei. Das Ladegerät ist von Neewer, war sehr günstig und hat mir schon öfter den Tag gerettet. Damit konnte ich beide Akkus ausreichend laden und der Fotoausflug war gerettet. Und auf den Speicherkarten war noch genug Platz für ein paar Bilder. Aber hier muss ich mir an die eigene Nase fassen. Es gibt keinen Grund, warum ich mit vollen Speicherkarten unterwegs war, obwohl die Bilder darauf schon längst übertragen und bearbeitet waren. Mal ehrlich. So von 100 Fotos sind 30 okay und 10 gut. Der Rest kann gelöscht werden.

Was nun folgt, ist eine fotografischer und chronologischer Spaziergang durch die Stuttgarter Innenstadt. Aufgenommen an einem Freitag zwischen 16.30 und 17.30. (Die Uhrzeit in den Metadaten geht leider eine Stunde nach.) Der Fokus liegt auf Bildgestaltung und Komposition. Unterwegs war ich mit meinem Sigma 20mm an einer Nikon D5300. Die Blende war meistens f8, also für maximal reichende Schärfe. Das Ziel war damit nicht durch gezielten Einsatz von Schärfe und Unschärfe etwas zu betonen, sondern alles abzubilden.

Der Künstlerbund

Direkt nach dem Verlassen der U-Bahn bin ich zum Schlossplatz gelaufen. Hier ist eigentlich immer etwas los. Jetzt aber nicht. Die erste Station war der Künstlerbund, wo normalerweise auch Gastronomie zu finden ist.

Haupteingang des Stuttgarter Künstlerbunds

Dieses Bild zeigt auf der linken Seite eine Tafel für Ankündigungen und auf der rechten Seite den Haupteingang des Künstlerbunds. Die Farben sind entsättigt (in Realität, nicht Lightroom) und beige und braun Töne dominieren. Die Ankündigung einer Veranstaltung fällt optisch durch die farbige Gestaltung auf. Am kräftigsten sticht ein roter, diagonal aufgebrachter Schriftzug heraus. Deutlich zu lesen ist „abgesagt“. Dieses Bild dokumentiert die gegenwärtige Situation. Und deutet die Probleme an, die dadurch für Künstler entstehen.

Fehlende Gastronomie des Künstlerbunds

Direkt um die Ecke ist dieses Bild entstanden. Es zeigt die fehlende Gastronomie, die sonst am Gebäude des Künstlerbunds zu finden ist. Hier bestand das Problem, wie man etwas fotografiert, das nicht da ist. Daher habe ich mich für die eingeklappten Schirme als Symbol entschiede.Den Ausschnitt habe ich so gewählt, dass die Säulen und Schirme begrenzende Linien bilden und den Blick des Betrachters an ihnen entlang auf das Fenster des Neuen Schlosses lenken. Das ist zwar leider nicht sehr spannend. Aber die Leere wird deutlich.

Die Gastronomie am Schlossplatz

Gerade als Stuttgarter weiß man, dass am Schlossplatz immer einiges an Gastronomie zu finden ist. Hier gibt es das Viertele in der Sonne oder die Halbe oder ein Eis. Jetzt aber nicht. Die Stühle sind gestapelt, mit Absperrband gesichert und zusammengeschlossen.

Gastronomie am Schlossplatz. Sauber gestapelt.

Auch hier ein eher deprimierendes Bild. Sauber gestapelte Stühle und eingeklappte Sonnenschirme. Beim Blick zum Hauptbahnhof habe ich das erste Mal die Königstraße mitten am Tag so leer gesehen.

Schlossplatz. Blick zum Hauptbahnhof.

Nochmal zur Verdeutlichung. Es ist Freitag, es hat 15 °C und die Königstraße ist für Stuttgarter Verhältnisse menschenleer. Das Bild habe ich so aufgebaut, dass die Treppenkante mittig im Bild in Richtung Hauptbahnhof verläuft. Die linke Seite des Bildes wird von Gebäuden dominiert, der rechte Teil ist freier und zeigt auch den Stuttgarter Dom. Ja, Stuttgart hat einen Dom.

Das Kino

Quasi direkt ums Eck ist das EM-Kino.

Hier hat mich das Billboard festgehalten. Die wechselnden Botschaften „We will be back“ und „Wir – einfach unverwüstlich“ sollen Mut machen. In Stuttgart gab es mal mehr Kinos als jetzt … ich hoffe einfach, dass es nach Corona nicht weniger als jetzt sind. Aber auch hier sieht man Leere. Keine Menschen und der Eingang ist abgesperrt.

Die Königstraße

Die Königstraße ist DIE Einkaufstraße in Stuttgart. Hier läuft man auf der rechten Seite. Oder in der Mitte, wenn man schnell ist und nur von A nach B möchte. #Stuttgartlife.

Königstraße. Gemeinsam für Stuttgart.

Leere zu dokumentieren war ein Ziel von mir. Aber es gibt auch Hoffnung, wie dieses Bild zeigt. Auch das gehört zu einer Reportage, mehrere Seiten zu zeigen. Das Bild zeigt einen Zettel, auf dem Mitmenschen Hilfe beim Einkaufen anbieten. Dieser Zettel wurde an einen Fahnenmasten geklebt. Den Zettel habe ich auf die linke Seite genommen. Die Abrisse deuten nach rechts, dorthin, wo eben Leere ist. Die Unschärfe des Hintergrund ergab sich durch den geringen Aufnahmeabstand. Wie gesagt, ich war mit 20mm unterwegs. Da muss man etwas näher ran. Die Fahnenstangen dienten noch als Motiv in einem anderen Bild.

Fahnenmasten auf der Königstraße.

Hier habe ich die Fahnenmasten fotografiert, welche bereits oben eine Rolle gespielt hatten. Der Zettel ist auf dem zweiten Mast von rechts zu erkennen. Der Bildaufbau ist symmetrisch. Der Abstand der Masten nach rechts und links bzw. oben und unten ist jeweils gleich. Der Fleck auf dem Boden im Vordergrund zeigt, dass hier etwas fehlt. Nämlich wieder einiges an Gastronomie.

Nochmal Schlossplatz

Hier wollte ich eine Idee Umsetzen: Kontraste. Es ist Frühling und warm, die Blumen sprießen. Dieses Aufblühen wollte ich mit Stillstand kontrastieren.

Hier habe ich die Blende auf f1.4 geöffnet, wodurch ich gezielt mit Schärfe und Unschärfe arbeiten konnte. Das ist jetzt weniger Reportage. Beim Ergebnis bin ich zwiegespalten. Links ist die Stuhlgruppe angeschnitten. Rechts ist die Königsbau Passage angeschnitten. Persönlich finde ich, dass keines der Bilder wirklich funktioniert.

Die Königsbau Passage

Die Königsbau Passage beherbergt eine Vielzahl an Geschäften. Zum Schlossplatz hin ausgerichtet gibt es einige kleiner Läden mit Lokalkolorit. An einem solchen ist das erste Bild entstanden.

Kaufhaus Mitte.

Hier wollte ich die zentrale Botschaft einfangen und aus der Not der Reflektion eine Tugend machen. Das Hilfsmittel gegen Reflektionen ist dunkle Kleidung. Dadurch entsteht hier eine scherenschnittartige Figur des Fotografen im Bild. Ich habe mich hier so hingestellt, dass die Botschaft „Wash your Hands. Shop small Brands.“ gut lesbar ist und die Jubiläumssäule in der Reflektion zu erkennen ist. Aber zentral und dokumentiert ist die Botschaft des Ladens auf sich und die kleineren Geschäfte aufzupassen. Gerade für kleine Geschäfte ist die gegenwärtige Situation eine große Herausforderung.

Im Inneren der Königsbau Passage

Zu meiner Verwunderung war die Passage tatsächlich geöffnet. Auf Ebene der Food Lounge habe ich das folgende Bild aufgenommen.

Geländer auf Ebene der Food Lounge.

Abgesehen davon, dass unter normalen Umständen eine solche Aufnahme schwer möglich ist, ergibt sich durch die Verwendung der 20mm Linse eine perspektivische Verzerrung und das Bild wirkt irgendwie surreal. Der Effekt ähnelt dem eines Fisheyes. Aber hier versteckt sich ein kleines Detail, das nicht sonderlich auffällt: Die Food Lounge ist nämlich abgesperrt. Dazu wurden weiße Stellwände aufgestellt.

Von der Ebene der Food Lounge aus gibt es einen Ausgang auf den kleinen Schlossplatz.

Hier habe ich zwei Aufnahmen gemacht. Links ist der Blick auf den Kleinen Schlossplatz und rechts ist der Blick in entgegengesetzter Richtung in die Passage hinein. Hier passiert etwas interessantes durch die Farbgestaltung. Generell herrschen kühle, sterile Farben vor. Aber gebrochen wird das durch die roten Akzente links bzw. die warme Farbgebung rechts. Dort laufen die Treppen ins „Warme“. Das ist vielleicht Werbepsychologie. Persönlich gefällt mir das linke Bild besser. In beiden Bildern wird aber wieder Leere gezeigt.

Auf dem Kleinen Schloss gibt es eine Kunstinstallation, die im Normalfall schwer zu fotografieren ist, da im Prinzip immer Menschen in den Reflektionen enthalten sind.

Spieglein, Spieglein … mit f1.4.

Dieses Bild zeigt eine Säule mit verspiegelten Flächen, welche die Umgebung einfangen. Die vorherrschenden Farben sind mit grau und blau-grau kühl und lassen einen kalten Eindruck entstehen. Für mich fühlt sich dieses Bild nach „Winter“ an. Es ist kalt und leer. Und das im Frühling.

Nochmal Königstraße

Nach dem Besuch in der Königsbau Passage lief ich die Königstraße südwärts.

Königstraße, Blick nach Süden.

Gefühlt war hier noch weniger als im nördlichen Teil der Königstraße los. Im Prinzip sieht man hier die Leere wieder. Aber eigentlich nur im Kontext der Uhrzeit: Ein normaler Freitag um 16.30. Auch hier habe ich wieder einen symmetrischen Bildaufbau gewählt. Eine Plattenfuge zentral und Linien und Bäume, die auf einen zentralen Punkt hinlaufen.

Kontraste

Der Eingang der Boss-Filiale hat mich festgehalten, da man hier den knalligen Effekt von Komplementärfarben sieht. Blau und Orange knallen immer. Auch hier habe ich den Bildaufbau symmetrisch gestaltet. Dadurch entsteht ein Kontrast zwischen hellem, knalligen Bereich links und dem dunklen, geschlossenen Eingang rechts.

Die Schulstraße

Die Stuttgarter Schulstraße ist die „Fressgasse“ in Stuttgart. Hier findet man immer etwas zu essen und im Normalfall ist es hier auch sehr voll. Jetzt aber nicht.

Stuttgart Schulstraße. Im Hintergrund das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Wissenschaft Baden-Württemberg.

Hier sieht man eine kleine Ansammlung von Menschen, die vor einer Poststelle warten. Jeder versucht, einen möglichst großen Abstand einzuhalten. Ein Sinnbild für die Corona-Krise. Das Bild wirkt befremdlich. Viel leerer Raum und Menschen, die noch mehr Raum schaffen wollen. Auf der oberen Etage der Schulstraße ist das folgende Bild entstanden.

Obere Etage der Schulstraße.

Hier sind im Normalfall Tische und Stühle zu finden. Geprägt ist das kulinarische Angebot von asiatischen Restaurants. Hier haben die Tische ihre Spuren hinterlassen. Auch ein eher deprimierendes Bild.

Rotebühlplatz

Der Rotebühlplatz ist einer der Knotenpunkte des ÖPNVs in Stuttgart. Jetzt merkt man davon aber nichts. Um das einzufangen habe ich zwei Bilder gemacht.

Auch hier bin ich zwiegespalten. Das linke Bild zeigt mehr Leere. Das rechte Bild ist (schon) wieder symmetrisch und enthält einen Kontrast. Direkt links der Spiegelachse sind Rolltreppen. Rechts normale Treppen. Am linken Bildrand ist Stein. Am rechten Bildrand ist Natur … oder zumindest etwas Grünes.

Hier ist noch ein Kino zu finden.

Kino mit passender Botschaft

Der Bildaufbau ist wieder symmetrisch geraten. Hier wollte ich die Botschaft des Kinos dokumentieren. „Bis bald! Bleiben Sie gesund und achten Sie aufeinander“. Das ist quasi der Gruß der Corona-Krise. Ein paar Meter weiter gibt es die Fritty Bar, eine sichere Bank in Sachen frittierter Kartoffeln.

Eine sichere Bank.

Die Sitzbänke sind abgesperrt. Ein trauriger Anblick.

Der Hans-im-Glück-Brunnen

Ein Zentrum des Stuttgarter Nachtlebens ist die Gegend um den Hans-im-Glück-Brunnen. Ich denke, die Bilder sprechen für sich.

Hier konnte ich es aber dann doch nicht lassen, eine Detailaufnahme zu machen.

Erstmal ist hier abgeschlossen.

Das Bild ist Teil des Bildes rechts unten. Aufgenommen mit f1.4. Sinnbildlich für den gegenwärtigen Lockdown.

Ein Witz zum Schluss

Die Corona-Krise hilft der Natur sich gegenwärtig zu erholen. In diesem Kontext ist das untere Bild entstanden.

Tauben in der U-Bahn

Überall kommt die Natur zurück und erholt sich. Aber nicht in Stuttgart. Denn die Tauben waren nie weg.

Lessons learned?

Ja, so einige.

  • Mein Ziel war es, die gegenwärtige Situation unvoreingenommen zu fotografieren und zu dokumentieren. Aber wirklich objektiv gelang mir das nicht. Ich habe immer einen Bildausschnitt gewählt. Somit ist das alles Subjektiv.
  • Mein Blick ist an Symmetrie ausgerichtet. Mich hat das beim Betrachten der Bilder überrascht. Oft habe ich eine Spiegelachse gesucht und Kontraste aufgebaut.
  • Kontraste! Die muss ich mal gezielt suchen.
  • Die gegenwärtige Situation ist eine gute Gelegenheit, mal loszuziehen. Eine leere Stadt klingt ganz anders als eine normale Stadt. Achtet da mal drauf.