Corona Part 2
Ich hatte Stuttgart bereites im ersten Lockdown besucht und die Gelegenheit genutzt, die Stimmung einzufangen. Diesmal besuchte ich Stuttgart bei Nacht. Aber warum eigentlich bei Nacht? Das hatte sich – zugegebener Maßen – spontan ergeben. Meine Idee war aber klar. Wie sieht er der zweite Lockdown in Stuttgart aus? Im Folgenden zeige ich ein paar Bilder und gehe auf die Ideen ein, die ich umsetzen wollte. Als Equipment habe ich ich auf mein Sigma 20mm und auf mein Tamron 70-200mm gesetzt. Die Bilder sind bewusst dunkel gehalten, sodass die Lichtstimmung eingefangen wird.
Die erste Location
Die erste Location ist ein italienisches Restaurant in einer sonst sehr belebten Ecke. Mir ist direkt der rote Teppich und die Lichtstimmung aufgefallen. Die Location hat mich fasziniert. Aber wie kann ich das abbilden, was mich fasziniert?
Bei meinem ersten Versuch habe ich den Eingang des Restaurants links im Bild platziert. Meine Idee war eine klassische Bildgestaltung.

Hier sieht man gut, was mich angezogen hat: Der rote Teppich und die Lichtstimmung. Besonders die beleuchtete Menütafel und auch der Lichtstreifen im linken Bogen (Bildmitte). Aber so wirklich hat mich das nicht überzeugt. Der Eingang wirkt tot und der Blumenkasten trennt das Bild ungut ein zwei Teile und trennt das Bild grob in drei Drittel. Erstes Drittel auf der linken Seite enthält den Eingang. Die verbleibenden zwei Drittel sind vom Lichteffekt und dem roten Teppich geprägt.

Beim zweiten Versuch habe ich den Bildausschnitt so verändert, dass der Eingang nicht auf dem Bild ist. Der Blumenkasten ist links am Bildrand zu sehen. Die Menütafel ist von der Mittel leicht versetzt, der Lichteffekt ist gut zu sehen. Mit diesem Ergebnis bin ich soweit zufrieden.
Das Interessante an diese Location ist für mich Tafel. Die Empfehlung momentan ist das Rindersteak in Gorgonzolasauce. Mitten im Lockdown. Nicht am Anfang des Lockdowns, sondern mitten drin. Bei mir sorgt das für eine deprimierende Stimmung. Während beim ersten Lockdown noch zuversichtliche Botschaften zu finden waren, sieht das für mich aus wie: „Sperrt zu Jungs. Wir gehen.“ Ohne Zuversicht.
Bei diesem Bild habe ich bewusst keine „klassische“ Bildgestaltung eingesetzt, sondern das Interessante in die Bildmitte genommen. Das wollte ich beim dritten Versuch noch etwas ins Extreme treiben.

Beim dritten Versuch habe ich die Tafel in die Bildmitte gesetzt. Es gibt einen starken Kontrast zwischen dem dunklen Innenraum und der hellen Gebäudefront. Das Bild wirkt aufgeräumt und fast schon minimalistisch. Dem Bild fehlt aber Tiefe. Leider steht ein Strauch direkt vor der Tafel und der Lichteffekt im linken Bogen. Ich finde das Bild jetzt nicht schlecht … aber mein zweiter Versuch gefällt mir besser.
Die zweite Location
Die zweite Location ist quasi um die Ecke vom gerade gezeigten Restaurant. Es handelt sich um eine Bar oder ein Bistro, das modern in freistehenden Glaswürfel untergebracht ist. Viel Glas bedeutet, dass man gut reinschauen kann und nur deshalb kam auf die Location.
Von außen gut sichtbar und hell angeleuchtet stand dort eine Blume, die bei mir negative Assoziationen geweckt hat. In dieser Blume habe ich eine weise Lilie gesehen und diese verbinde ich mit Beerdigungen. Gleichzeitig wird diese aber direkt von einem Spot angestrahlt. Man kann sie also kaum übersehen. Derjenige, der die Blume dort drapiert hat, will offensichtlich eine Botschaft übermitteln. Und zwar keine gute.
Auch nicht gut war die Aufnahmesituation für mich. Starke Kontraste zwischen hell und dunkel. Und noch schlimmer ist, dass die weise Lilie eben genau das ist: weis. Dazu natürlich noch die Herausforderung des Fotografierens durch Glas: Reflektionen.

Dieses Bild zeigt die angesprochenen Probleme. Die Blüte ist nur als weiser, ausgefranster Fleck zu erkennen und überbelichtet. Deutlich erkennbar sind zudem die Reflektionen im Glas. Generell hilft es gegen Reflektionen, näher an die Glasscheibe zu gehen.

Für den zweiten Versuch habe mein Objektiv von Weitwinkel (20mm) auf Zoom (70-200mm) gewechselt. Der Bildausschnitt ändert sich dramatisch. Die Belichtung habe ich so gepasst, dass die Blüte nicht überbelichtet ist. Dadurch ändert sich die Wirkung des Innenraums ebenfalls enorm. Deutlich zu erkennen sind zwei Lichtquellen. Die angestrahlte Blume und der Kühlschrank im Hintergrund. Durch einen geringen Abstand zu Scheibe, konnte ich die Reflektionen vollständig umgehen. Ein schwer erkennbares Detail befindet sich im Hintergrund rechts neben dem Kühlschrank. Dort stehen noch Kuchenstücke unter einem Glasdeckel.

Beim dritten Versuch bin ich per Zoom weiter an die Blume ran. Sie dominiert nun fast zentral das Bild. Direkt im Licht des Spots fällt auf, dass die Zeichnung der Blütenstruktur verloren geht, die Belichtung ist also nicht optimal
Aber welches Bild ist nun das „beste“? Technisch gesehen ist mein erster Versuch nicht gut. Das Bild ist zu hell und die Reflektionen stören. Das Bild ist eher dokumentarisch. Die Versuche 2 und 3 sind technisch besser und erzählen durch die Komprimierung des Bildwinkels eine Geschichte. Die Blume als Symbol im Vordergrund, der Kühlschrank läuft und Kuchen steht zum Verkauf bereit. Diese Szenerie verstärkt die von mir hineininterpretierte Botschaft bzw. die Erwartung des Gastronoms: Abschied und Trauer. Aber beide Versuche sind sehr plakativ. Sie wollen etwas zeigen und sind entsprechend so gestaltet. Im Nachhinein gefällt mir der erste, dokumentarische Versuch besser. Durch veränderte Einstellungen und Blickwinkel hätte ich in bestimmt technisch verbessern können. Aber naja … hätte hätte Fahrradkette und in der Situation war mir die Blüte wichtiger.
Die dritte Location
Die dritte Location meines Ausflugs ist die Stuttgarter Schulstraße. Diese eher enge Gasse ist normalerweise sehr stark frequentiert und ist auch als „Fressgasse“ bekannt. Die Mieten in dieser Straße sind wohl sehr hoch und die Läden profitieren von einer hohen Kundenfrequenz. Zum Zeitpunkt der Aufnahmen war Deutschland aber im zweiten Lockdown und entsprechend groß dürften die wirtschaftlichen Probleme gewesen sein.

Dieses Bild habe ich aufgenommen, da es in der verlassenen Schulstraße durch den hell erleuchteten Innenraum herausgestochen ist. Die Regale sind allesamt leer und lediglich der Markennamen gibt darüber Aufschluss, was einst hier verkauft wurde. Die großen Glastüren geben dabei den Blick in einen länglichen Verkaufsraum frei, in dem noch Regale und Kassentresen zu finden sind. Obwohl der erleuchtete Laden heraussticht, empfinde ich das Bild als bedrückend. Es hat sich nicht einmal wer die Mühe gemacht, die Zeitschaltuhr für das Licht auszumachen. Der Interpretation passt für mich zur ersten Location und erzeugt bei mir den Eindruck von „Jungs, räumt ein und dann Abgang.“ Im Prinzip eine Komplettaufgabe. Der erleuchtete Innenraum ist zeigt vielmehr, was mal war.
Das zweite Bilder ist ebenfalls in der Schulstraße entstanden.

Hier ist die Situation komplett komplementär zum ersten Bilder an Location drei. Der Laden ist komplett unbeleuchtet und leergeräumt. Es gibt keine Hinweise darauf, was hier verkauft wurde. Die großen Glastüren beziehungsweise Schaufenster spiegeln die Umgebung und man indirekt Blick auf die Nordsee, Bonita und Tabak-/Zeitschriftengeschäft. Obwohl dieser Laden ebenfalls verlassen wurde, empfinde ich den Eindruck als nicht so niederschlagend als beim ersten Bild. Hier herrscht Anonymität, es gibt keine Reste oder Erinnerungen, es gibt nichts. Die Reflektion von Bonita in der Scheibe ist interessant. Schaut man genau hin, erkennt man drei Poster: „Alles reduziert -20%“, ein nicht lesbares, handgeschriebenes Poster und als letztes der Hinweis „Alles reduziert. Wir schließen diese Filiale“. Dieses Bild hat quasi doppelte Aufgabe erfasst. Die abgeschlossene, vollständige Aufgabe und eine noch anstehende Aufgabe.
Die vierte Location
An der vierten Location ist nur ein Bild entstanden. Auch hier habe ich wieder einen leerstehenden Laden fotografiert, der ein interessantes Detail zeigt, das zur Interpretation der Szene einen – eventuell unbeabsichtigten – Beitrag leistet.

Dieses Bild auf der Königstraße in Richtung Hauptbahnhof entstanden. Auch hier ist das beherrschende Thema wieder Leerstand. Die Lichtsituation war generell dunkel und Beleuchtung spärlich. Das Bild zeigt das Schaufenster eines ehemaligen Messerladens, der sich wohl besonders bei Touristen einer gewissen Beliebtheit erfreut hat. Der Eingang liegt verdeckt auf der linken Seite des Bildes, der Blick in den Verkaufsraum ist verdeckt. Durch das begrenzte Blickfeld fehlt die gähnende Leere der vorangegangenen Location. Interessant ist aber das Objekt, das das Blickfeld begrenzt: Zwei Kinoplakate. Ergänzen möchte ich noch, dass das mittlerweile geschlossene Kino Metropol in direkter Nachbarschaft liegt. Bei den Plakaten handelt es sich um die Ankündigung des neuen Films aus der James Bond Reihe mit dem Titel „Keine Zeit zu sterben“. Ich bin mir hier nicht sicher, ob und was sich dabei gedacht wurde, genau diese Poster einzusetzen. Für mich entsteht hier der Eindruck eines gewissen Trotzes des Ladenbetreibers. Vielleicht lässt sich auch herauslesen, dass der zweite Lockdown so unerwartet kam, dass tatsächlich keine Zeit zum sterben war.
Und jetzt?
Eigentlich hatte ich ein ganz anderes Ziel bei dem spontanen Ausflug nach Stuttgart. Ich wollte bei Dunkelheit ein paar Ideen zur Bildgestaltung umsetzen. Bei Location 1 und 2 habe ich das noch umgesetzt, bei Location 3 und 4 ist dieser Ansatz nicht mehr zu finden. Was ist geschehen? Zum einen hat sich das Motiv geändert. Von Außenansichten beziehungsweise dem Blick ins Innere eines Cafés hinzu Frontalaufnahmen aufgegebener Läden. Zum anderen hat sich auch mein Ansatzpunkt verändert. Anstatt mittels Bildgestaltung und Technik zu komponieren, wurde in den späteren Bildern dokumentiert. Entsprechend sind diese Bilder auf der einen Seite einfacher, aber auf der anderen Seite umso spannender, da sie eine Geschichte erzählen. Der hell erleuchtete Schuladen zum Beispiel. Das Licht scheint ja irgendwie vergessen zu sein. Im Kontrast der anonyme zweite Laden. Was war dort mal zu finden? Der aufgegebene Messerladen. Ist die Auswahl des Filmplakats Absicht gewesen? Die Hinwendung zur Dokumentation ist mir selbst erst bei der Auswahl der Bilder bewusst geworden. Das soll jetzt nicht heißen, dass Bildgestaltung und Bildkomposition nutzlos sind. Aber bei der Dokumentation sind dieser nachrangig, da die Bilder eine Geschichte unabhängig vom Goldenen Schnitt erzählen.